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1.Bericht_Titelbild_Liu_Boheme_©_Stageti

28. Juni 2019 
Retro Tease Festival
Le Croiseur Lyon (FRA)

Wenn Burlesque Performerin Marie für einen Auftritt die Wohnung verlässt, wird sie zur Kunstfigur Liu Bohème. Es ist ein Sonniger Freitag Morgen ca. 7:30 Uhr (und die Reise führt die Künstlerin ins französische Lyon ans Retro Tease Burlesque-Festival. Die Auswahl eines Festival ist bei Liu, und bei vielen anderen Künstler/Innen auch, eine Frage der Zeit und nicht zuletzt des Budgets. Das glamouröse Leben als Performer verschlingt viel Geld, da Reise und Unterkunft in der Regel selbst bezahlt werden. 

 

Der Weg nach Lyon ist mit dem Auto rund 450 Kilometer zwar weit, aber zumutbar. Bevor Liu ins Auto sitzt, braucht es einiges an Vorbereitung. Am Anfang dieses Prozesses steht die Ausschreibung oder Application. Mit mindestens zwei Nummern kann man sich bewerben. Zur Bewerbung gehören im besten Fall Fotos des Acts oder sogar ein Film. Die Organisatoren in Lyon haben sich für Lius allerersten Act, den sie einstudierte, den «Geisha - Sword»-Act», entschieden. Auf Grund ihrer Chinesischen Wurzeln orientiert sie sich gerne an der asiatischen Kultur. Inspiration holt Liu sich aber in persönlichen Erlebnissen oder in der Musik. Als Tanzlehrerin für verschiedene Stilrichtungen ist da viel Kreativität vorhanden. Früher hat sie vor allem Gruppenperformances choreographiert und ist mit einer Gruppe selber aufgetreten. Durch das Interesse an der Mode, Musik und Lebenseinstellung der 20er-Jahre kam sie auf die Kunst des Burlesque. «Die Soloauftritte gaben mir aber erst den Kick», erklärt sie. So richtig vom Burlesque-Virus wurde sie beim erste Besuch des Internationalen Berlin Burlesque-Festival infiziert. Nach dem Eintauchen in diese Welt wollte Liu nicht mehr nach Hause. Wer einmal in Berlin dabei war, kann das gut nachvollziehen. 

 

In Lyon angekommen, führte der Weg zur Location, in der das Festival am Freitagabend startet. Mit dabei ein gefühlt 25 Kilo schwerer Koffer voller Schminke, Kostümen und weiteren Utensilien, die Frau so mit sich herumschleppt. Ganz Gentleman wie ich bin, übernahm ich das grosse Gepäck, Liu verantwortete dafür die Navigation durch das ganze Aussenquartier von Lyon. Es war ein netter Spaziergang bei sommerlichen Temperaturen von geschätzten 30 Grad. Somit war mein Fitnessprogramm auch gleich erledigt.

Die Show in Lyon war gleichzeitig ein Contest. Zu gewinnen gab es einen Auftritt am zweiten Festivalabend.

Für Liu Bohème ist so ein Contest ein grosser Ansporn, wobei nicht das Gewinnen im Vordergrund steht, sondern mehr die Standortbestimmung. Die Weiterentwicklung ist für die (20-jährige/30-jährige/40-jährige) Power-Frau sehr wichtig. «Man soll nie stehen bleiben» ist ihre Devise. 

Die Anstrengung hat sich gelohnt. Wir wurden sehr herzlich von der Veranstalterin in Empfang genommen und gleich in den Backstagebereich und in den Hinterhof geführt. Unter einem Kastanienbaum sassen schon einige Performer zusammen. Mit der Genferin Silly Thanh war noch eine zweite bekannte Person dabei. 

Obwohl man sich nur vom Hörensagen kennt oder einmal ein Foto auf Social Media gesehen hat, war die Verbundenheit durch das Burlesque sofort gegeben. Liu erzählte mir, dass sie auf den Festivals noch nie schlechte Erfahrungen gemacht hat. «Die Burlesque-Welt ist ist eine grosse Familie und jede/r ist Willkommen». Dies bestätigt auch meinen Eindruck, selbst ich, der nicht performt, gehörte sofort dazu. 

Bald wurde es aber ernst, die Proben begannen. Dies ist aber eine unspektakuläre Sache. Ohne Kostüm gehen alle einzeln auf die Bühne, klärt mit dem Licht- und Tontechniker kurz welcher Song gespielt wird und was man lichttechnisch für Wünsche hat. Dann tanzt jeder kurz ein Teil des Acts vor und das war es auch schon. Die Künstler/Innen sind routiniert und völlig entspannt. 

 

Gegen Abend spürte man schon, wie es im Backstage immer heisser wurde. Platz war auf den ersten Blick genug für alle da und sonst arrangiert man sich einfach. 

Liu_Boheme_Backstage|©Stageti
«Jedes Festival und jeder Auftrittsort hat seinen eigenen Charakter und zeichnet sich für sich aus. Das passt für mich so wie es gerade ist. Festivals sind für mich immer super Gelegenheiten, um andere Performer aus allen Ecken der Welt kennenzulernen und neue Kontakte zu knüpfen», ergänzt Liu.

Ich zog mich zurück, sprach mich noch kurz mit dem anderen Fotograf aus Holland ab, damit wir uns nicht in die Quere kommen. Wie unter den Performern, findet man sich schnell, trinkt noch gemütlich ein «Zielwasser» mit Hopfen und Malz und dann gehts endlich los mit der Show.

 

Leider war das Publikum nicht so zahlreich wie es das Festival verdient hätte. Lyon hat eine überschaubare Burlesque-Szene. Das Retro Tease-Festival fand zum ersten Mal statt und darf noch wachsen und gedeihen, was es bestimmt auch tut. 

Zu sehen gab es von wunderschönen klassischen Nummern (Isabella Backat, Silly Than) über unterhaltsamen Neo Burlesque (Scarlet Ruby Storm) zu schrillen Drag Queen Performanceses (Sam Beardy als Arielle die Meerjungfrau). Für die Jury also kein einfaches Unterfangen, ein/e Sieger/in zu wählen. Die Acts waren alle auf einem extrem hohen Niveau, waren lustig, poetisch oder unterhielten mit wenig drum herum. 

 

Etwas «Neues» zeigte Dark Salty Coco: Sie kam so auf die Bühne wie die meisten die Bühne verlassen, nämlich ausgezogen. Im Laufe ihrer Performance zog sie sich an, daher trug ihr Act den Titel «In Reverse». Die Idee fand ich sehr cool und eine willkommene Abwechslung. 

Begeistern konnte mich ebenfalls Ishka Pepper. Sie stammt zwar aus Genf, auf der Bühne habe ich sie bis dahin jedoch noch nie gesehen. Ihr Act mit übergrossen Fächer und einem überdimensionalen Umhang war nicht neu, aber die Art wie sie performte und das Strahlen im Gesicht, waren eine wahre Freude. 

 

Als letztes kam Liu Bohème mit ihrem «Geisha - Sword»-Act. Ich war selber gespannt, da ich diesen Act noch nie gesehen hatte. Das Publikum war schon den ganzen Abend in bester Stimmung und bei Liu wurde es nochmals richtig laut. Kein Wunder, trotz der Hitze gab sie alles. Da war diese mystische Stimmung und zugleich die actiongeladene Performance mit den Schwertern. Man war beim Zuschauen richtig elektrisiert. 

Wie bereits erwähnt, war die Show auf sehr hohem Niveau. Aber mit dem Finale hat wohl niemand so richtig gerechnet. 

Nun hatte die Jury die Qual der Wahl. Während sie sich berieten, wurde das Publikum von einer Lindy Hop-Tanzgruppe unterhalten. 

Die Wahl fiel schlussendlich auf drei Performerinnen: Dark Salty Coco, Candyman, die mit einer schwungvollen Hula Hoop-Nummer sehr gut unterhielt und Liu Bohème. Alle drei bekamen eine Krone und einen Goodie-Bag, der sehr reichhaltig gefüllt war. Nun lag es am Publikum zu entscheiden, wer am Samstag nochmals auftreten darf. Am Schluss setzte sich Candyman knapp vor Liu durch. 

Sieger_Ehrung_Contest_©_Stagetime.ch-2.j
«Ich war sprachlos und fühlte mich total geehrt. Es war für mich eine Ehre, so weit zu kommen und mit all diesen tollen Performern die Bühne zu teilen. Egal ob gewinnen oder nicht, ich lerne immer etwas daraus und treffe meistens tolle Leute und das ist für mich viel Wert», zieht Liu als Fazit.

Nach der Show verzog Liu sich wieder in den Backstagebereich und musste wie ich kurz durch atmen. Es war ein grossartiger Abend mit vielen Eindrücken. Gemütlich sassen wir noch vor der Location draussen. Es war ca 1:30 Uhr als uns Sam Beardy ins Hotel gefahren hatte. Weil wir beide noch Hunger hatten, suchten wir ein nahegelegenes Fast Food-Lokal auf. Da nur der Drive-In geöffnet war, spazierten wir in mitten der Autos zum Schalter. 

Ein ereignisreicher Tag ging mit einer sehr Gesunden Portion Chicken Nuggets zu Ende. 

 

Die Reise von Liu Bohème ist noch lange nicht fertig. Auf ihrer Bucket List stehen noch viele grosse Pläne wie Australien,die Burlesque Hall of Fame in Las Vegas oder ganz bescheiden das Stockholm Burlesque Festival. «Ich möchte überall auf der Welt auf der Bühne stehen», sagt sie mit glänzenden Augen. Dem Publikum und ihr wäre dieser Wunsch gleichermassen zu gönnen.

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